Aus: Annuaire du Club Alpin 1895
Abstieg in den Schacht von Gaping Gill /
Yorkshire Dales
"Ohne die Hilfe meines treuen Armand mußte ich selbst ganz allein die endlosen
Vorbereitungen erledigen, um die er sich sonst gekümmert hatte und deren
sorgfältige Ausführung Überlebenswichtig war.
Ich konnte bei dieser
Gelegenheit die großen Vorteile des ausgeprägten britischen Phlegmas schätzen
lernen: die Zuschauer, obwohl offensichtlich neugierig und interessiert, hielten
sich stark zurück. Nichts störte die Übermittlung meiner Anweisungen, keine
ungeschickten Hilfsangebote behinderten mich bei meinen
Vorbereitungen.
Ich mußte daran denken, wie nötig wir diese
Selbstbeherrschung oft in unserem turbulenten Südfrankreich gebraucht hätten:
etwa am Mas Raynal, wo wir uns fast mit der Dorfjugend prügeln mußten, die am
Rande des Schachts, bei vollem Risiko, dort hinabzufallen, einen Tanzboden
aufmachten, mit Geige und Akkordeon, so laut, daß wir nichts mehr am Telefon
hören konnten. Oder in Padirac, wo ich 1890 einen Gendarmen bitten mußte, einen
Jäger abzuführen, dessen Hunde ständig Steine in den Schacht warfen. Kurz
gesagt, mein Publikum von Gaping Gill war sicherlich das ruhigste und
ernsthafteste das ich je getroffen habe."
"Da niemand weiß, wie mein Telefon funktioniert muß meine Frau diese wichtige
Aufgabe an der Schachtöffnung Übernehmen. Sie wird meine Anweisungen
weitergeben. Alles erscheint bestens, ich habe nur noch eine Sorge: die
Beleuchtung. Ich frage mich, wie ich dieses Problem lösen soll, wenn das
Tageslicht nicht den Boden erreicht. Denn in den Schacht fällt noch immer soviel
Wasser, daß die Schaum- und Luftwirbel sicher jedes Anzünden unmöglich machen
würden.
Trotzdem hänge ich mir eine Laterne an den Arm und setze mich auf
meinen Abseil-Stock. Um 1 Uhr 22 gebe ich das Kommando: Langsam Ablassen!
Die ersten 20 Meter gehen wunderbar einfach. Das Seil liegt leicht an
der Wand an, ich muß mich nur hinabgleiten lassen. Der Wasserfall bleibt 1 Meter
50 zu meiner Linken entfernt. Sein Schaum spritzt mich naß, aber der
Wasserstrahl behindert mich nicht.
Dann tauche ich in den Wasserfall
ein: Das Wasser ist kalt und fließt mir trotz meines zugeknöpften Kragens zum
Hals hinein undjagt mir Schauer Über den Rücken. Ich beglückwünsche mich für die
Idee, Stiefel mit Löchern anzuziehen, durch die das Wasser abfließen kann. Aber
ich bin nicht, wie befürchtet, durch den Schock des auf meinen Kopf fallenden
Wassers benommen. Allerdings habe ich einen festen Lederhelm auf.
In 40
Meter Tiefe werde ich abrupt angehalten: 'Hallo, hallo, was ist los? - der
Knoten zwischen zwei Seilen hat sich in einer Felsspalte verfangen, wir brauchen
5 Minuten um ihn freizumachen - Also nein, keine 5 Minuten. Ich hänge mitten im
Wasserfall und es ist nicht gerade warm hier. Beeilt Euch!'
Da kann ich noch
so protestieren und zetern, die Zeit verfließt langsam, während mich die Kaskade
in die Falten einer wirbelnden wogenden Tunika wickelt.
Endlich geht der
Abstieg weiter. In 55 Meter Tiefe habe ich das Vergnügen, auf einer Art Terrasse
anzuhalten. Ich hebe den Kopf und bewundere die elegante Wassersäule: so haben
also früher alle unsere Schächte in den Causses ausgesehen!
Noch 45 Meter, immer im Wasserfall.
Der Schacht Öffnet sich, doch das
Tageslicht fällt senkrecht hinab.
Plötzlich, in 70 Meter Tiefe, weitet sich
der Schacht, die Wände springen in rechtem Winkel zurück, verwandeln sich in
eine waagrechte Decke, die sich in den Dunkelheit verliert. Ich komme in einer
riesigen Höhle an, deren Ende ich nicht sehen kann. Noch 25 Meter.
Und
dann ein neuer heftiger Stop: 'Hallo, was ist los? - Das Sicherungsseil ist zu
kurz, wir müssen es verlängern, 2 Minuten, um den Knoten zu machen. Geduld. -
Ihr haltet mich wieder mitten im Wasser an! Das Seil hätte man doch vorher
verlängern können! '
So penibel auch meine Lage ist, ich setze mich mit
wahrer Freude auf eine Sprosse der Leiter. Jetzt ist der Erfolg sicher.
Um 1 Uhr 45 setze ich den Fuß auf den Boden. Der Abstieg hat 23 Minuten
gedauert." // Ann. CAF p.198-202
Übersetzungen frei für den Nachdruck in Speläo-Zeitschriften gegen Belegexemplar
und Quellenangabe (Aus: "Expedition in die Finsternis - B.Kliebhan /
Videovertrieb U.KRUEGER")
Martel
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